Kurzgeschichte "Annemi schmeißt alle raus"



Annemi schmeißt alle raus 

Annemi sitzt hinterm Lenkrad.
Feierabend. Ab nach Hause. Im Radio läuft ein guter Song. Sie singt laut mit.
Links ziehen sie an ihr vorbei, die Audis und die BMWs und all die anderen Verrückten. 

Sollen sie. Und Tschüss! In der Klinik sehen wir uns wieder.
Annemi hat Zeit.
„ … Verkehr wird einspurig an der Unfallstelle vorbei geleitet.“
Annemi schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Jetzt noch im Stau stecken. Als wäre ihr Tag nicht lang genug gewesen.
Ihre Hände greifen das Lenkrad fester.
Vor ihr leuchten Bremslichter reihenweise rot auf. 

Annemi knipst die Blinkanlage an und geht vom Gas. Schon steckt sie fest im Stopp and Go.
Stoßstange an Stoßstange geht es voran. Die Kolonne schiebt sie mit.
Blaulicht zuckt über ihre Motorhaube. Die Unfallstelle kommt in Sicht. Sie sieht Feuerwehr und Rettungswagen. Die Helfer laufen auf der Fahrbahn herum. Polizisten sichern sie.
Da, das Unfallfahrzeug. Himmel, sieht das aus! 

Im Schritttempo geht es an dem Haufen Schrott vorbei. 
Annemi schwitzt.

Diese Gaffer! Gebt Gas, ihr Idioten! Die Show ist vorrüber, die Bahn ist frei!
Annemi tritt aufs Gaspedal, tritt es beinahe durch den Fahrzeugboden.
Sie zieht rüber auf die linke Spur. Wer im Weg ist, wird beiseite gefegt. Die Tachonadel zittert am Anschlag.
Annemi fährt, als säße der Teufel auf ihrer Rückbank.
Doch der ist es nicht.
Es ist der Sciroccofahrer. Rücksitze raus, Kenwood-Anlage rein.
Annemi schaut sich nicht um. Sie weiß es auch so, erkennt ihn am Geruch. Hat ihn ja oft genug in Mull und Gaze gewickelt, seinen Schädel, der am Lenkrad zertrümmerte, als der Scirocco mit der Lärmschutzwand zusammenstieß.
Und da ist das Mädel ohne Gesicht. Die Haut blieb in den Glassplittern hängen, als sie den Flieger durch die Windschutzscheibe machte. Dumme Nuss! Wenn man einen Freund hat, der fährt wie ein Henker, sollte man sich besser anschnallen.
Da, die Mutter von zwei kleinen Kindern, die auf der Fahrt in den Urlaub still und tot auf dem Beifahrersitz zusammensackte. Hirnblutung, ganz plötzlich. Wie eine Zeitbombe im Kopf. Und der Ehemann saß rund um die Uhr an ihrem Bett, begriff nicht… 

Die Sicht verschwimmt. 
Annemi wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Wieder keine Tempos zur Hand. Im Blindflug rast sie über die Autobahn. 
Es ist kalt im Auto. Das Radio ein Paralleluniversum, eine andere Welt, in der Lady Gaga plärrt. 
Auf der Rückbank ihre Mitfahrer, stumm und unsichtbar, starren ihr in den Nacken.
Annemis Schultern zucken.
Die sollen weg! Sie will sie nicht mit sich herumschleppen!
Am Fahrbahnrand huscht eine autobahnblaue Schliere vorbei, mit etwas Weißem in der Mitte.
Annemi tritt auf die Bremse und reißt das Lenkrad herum.
Über drei Spuren hinweg zieht ihr Auto nach rechts und rollt auf dem Rastplatz aus, kommt hinter einem Opel zum Stehen.
Annemi stürzt hinaus. Die Fahrertür lässt sie sperrweit offen. Sie reißt die hintere Tür auf.
„Raus!“, brüllt sie in den Fond.
Stampft um den Wagen herum, zerrt die Türen auf der rechten Fahrzeugseite auf. Klappt den Kofferraumdeckel hoch.
„Raus! Macht, dass ihr rauskommt!“
Aufrecht steht sie, mit dem Türgriff in der Hand. Ihr Zeigefinger weist unmissverständlich die Richtung.
„Haut ab! Schert euch in die Wüste! Kommt mir nie wieder unter! Es reicht mir mit euch!“
Ihre Tirade schallt über den Parkplatz.
„Ihr kotzt mich an. Alle! Verpisst euch!“
Ihre Stimme überschlägt sich. Kübelweise schüttet sie Wut und Pein in ihr Auto, spült es gründlich aus. 

Plötzlich hält sie inne.
"Was mache ich hier?", fragt sie sich. "Schreie mein leeres Auto an. Ich hab `n Knall!"
Sie gluckst erleichtert. Lacht dem Opelfahrer, der sie anstarrt, ins Gesicht.
„Ich hab `n Knall!“, ruft sie ihm zu. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich hab nur `n Knall.“
Kichernd steigt sie in ihr Auto und lässt den Motor an. Beim Vorbeifahren winkt sie dem immer noch glotzenden Opelfahrer zu.
Sie setzt den Blinker und fädelt sich in den laufenden Verkehr ein. Über die Schulter wirft sie einen Blick auf die Rückbank.
Der Junge mit dem nach hinten gedrehten Fuß und dem gebrochenen Schädel ist noch da. Er saß auf seinem Mofa, doch der LKW, der ihn übersah, war stärker.
Annemi seufzt.
„Nein, mein Schatz, ich möchte dich nicht mit nach Hause nehmen. Ich fahr dich noch eben beim Friedhof vorbei. Ist das okay?“








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